In den nächsten Monaten oder sogar Jahren wird uns im Kanton St. Gallen ein Thema beschäftigen, das ganz direkt unsere Lebensqualität als Einwohnerinnen und Einwohner sowie die Wettbewerbsfähigkeit unseres Wirtschaftsstandortes betrifft: Die Spitalpolitik. Der Aufschrei war gross, als der Verwaltungsrat der Spitalverbunde kommunizierte, dass Umnutzungen bestehender Akutspitäler denkbar sind. In der Bevölkerung, aber auch innerhalb unserer Partei hat diese Nachricht für Furore gesorgt. Unsere Fraktion im Kantonsrat hat aber seit Monaten mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass die Spitäler finanziell massiv in Schieflage geraten sind und Handlungsbedarf besteht.
1995 war es schon nicht anders
Die Mahnung unserer Fraktion kam aber keineswegs aus dem Nichts. Dass Handlungsbedarf besteht, ist schon viel länger bekannt. Bereits 1995 – ja, vor über 20 Jahren! – war klar, dass die heute immer noch bestehenden Strukturen keine Zukunft haben. Nur ging man nicht davon aus, dass es noch über 20 Jahre dauert, bis alle zu dieser Überzeugung gelangen: «Es wird aber für die politisch Verantwortlichen neu eine kontinuierliche Aufgabe sein, den notwendigen Bewusstseinswandel mitzugestalten. In diesem Sinne ist nach Auffassung des Experten die Spitalplanung 1995–2005 des Kantons St.Gallen kein Meilenstein, sondern Startpunkt für eine vertiefte Auseinandersetzung.» Das Zitat stammt von Seite 18 des Begleitberichts der Regierung zur Spitalplanung 1995 vom 24. Oktober 1995 – entstanden unter Federführung des damaligen FDP-Gesundheitsdirektors Burkhard Vetsch. Ebenfalls bereits 1995 stand eine Lösung des Problems zur Diskussion, die uns in Anbetracht der 2018 geführten Debatte ebenfalls hellhörig werden lässt (S. 8): «Das Modell Zonenspitäler sieht eine Konzentration der heutigen acht Landspitäler auf vier Schwerpunktspitäler und ein Landspital vor. Diesem Modell liegt die Überzeugung zugrunde, dass langfristig nur Spitäler mit mindestens 200 Betten die fachlichen und finanziellen Anforderungen erfüllen und ein attraktives Leistungsangebot gewährleisten können.»
Abwahl als Damoklesschwert
Wir hatten als Bevölkerung bisher nicht den Mut, unsere Strukturen kritisch zu überdenken und die nötigen Schritte einzuleiten. Über der ganzen Diskussion bzw. über allen Volksvertreterinnen und vertretern hängt vermeintlich das Damoklesschwert der Abwahl. Die NZZ schrieb am 7. August 2018 in Bezug auf ähnliche Diskussionen in Zürich vor ebenfalls 20 Jahren treffend: «Und auch jenen Politikern, die lieber Eröffnungen feiern, als Schliessungen bekanntzugeben, könnte das Beispiel Mut machen. Denn Verena Diener wurde trotz diesem radikalen Schritt als Regierungsrätin wiedergewählt und hat nach ihrer Amtszeit auch noch den Sprung in den Ständerat geschafft. Wie das geht: ‹Man muss sich der Bevölkerung stellen und Überzeugungsarbeit leisten›, sagt sie.»
Heikle Mehrfachrolle
Bevor wir aber Überzeugungsarbeit leisten können, müssen wir uns gemeinsam darüber klar werden, was wir wollen. Bei der aktuellen Debatte sprechen alle von einzelnen Standorten, vom Schreckgespinst der Schliessung. Im Zentrum aber muss doch der Mensch stehen, die Qualität unserer Gesundheitsversorgung. Als Freisinnige sind wir der Auffassung, dass der Staat die Rahmenbedingungen festlegen muss, damit die Leistungserbringer ihre Aufgabe effektiv und effizient erfüllen können. Dabei müssen wir eigentlich nicht über einzelne Spitalstandorte sprechen, sondern uns bewusst machen, dass wir ein strukturelles Problem haben. Wir bemühen nochmals die NZZ, um darzustellen, wie unsere Gesundheitsversorgung heute organisiert ist: «Das Grundproblem dahinter ist, dass die Kantone in einer heiklen Mehrfachrolle stecken. Sie haben die Aufsicht über das Gesundheitswesen, sie legen im Streitfall Spitaltarife fest, übernehmen die Spitalplanung und mischen auch noch selbst im Markt mit. Man stelle sich vor, ein Fussballschiedsrichter würde bei einer WM-Partie eine der beiden Mannschaften coachen und sich dann auch gleich noch selbst als Spieler einwechseln. Fairplay sieht anders aus.»
Ehrlichkeit und Transparenz
Konsequenterweise müssten wir zuerst auch dieses Problem angehen, bevor wir grossartig über einzelne Standorte sprechen und Detailkonzepte entwerfen. Dieser Zug ist aber vermutlich abgefahren. So bleibt uns nichts anderes übrig, als damit zu arbeiten und das Beste für die Menschen in unserem Kanton rauszuschlagen – hoffentlich immer in Hinblick auf die Qualität und nicht hinsichtlich regionalpolitischer Befindlichkeiten. Und um nochmals den Bericht von 1995 zu Wort kommen zu lassen (S. 17): «Der aktuelle Widerstand gegen die Schliessung von Spitälern erinnert z. B. an den Widerstand in der Bevölkerung gegen die Aufhebung von bedienten Bahnstationen: Diese Stationen wiesen mangelnde Frequenzen auf – und ein Grossteil jener, welche sich gegen einen effizienteren Betrieb wehrten, hat die Bahn selten oder nie benutzt.» Es ist nun die dringende Aufgabe der kantonalen Politik, die Bevölkerung offen und ehrlich von der Notwendigkeit neuer Strukturen zu überzeugen. Strukturen, die dem medizinischen Fortschritt und dem geänderten Patientinnen und Patientenverhalten angepasst sind und höchste Qualität erst ermöglichen. Es geht um nichts weniger als um Leben und Tod.
Raphael Frei, Kantonalpräsident
Beat Tinner, Fraktionspräsident